Ein Essay mit Statements zur Diskussion, ob Netiquette Regel, Gesetz, Unterdrückung persönlicher Freiheit oder etwas anderes ist, wo Netiquette herkommt, was Netiquette will und wozu Netiquette gut ist. Am Beispiel des Usenet, aber durchaus übertragbar auf andere Dienste, wird der Sinn der Netiquette diskutiert.
"Netiquette" ist ein Kunstwort aus "net" (engl. Netz) und "etiquette", zu deutsch Etikette; Etikette wiederum ist wohl aus dem Deutschen über das Niederländische in die französische Sprache gelangt und von dort aus ins Englische. Ursprünglich "ein an einen Pfahl gesteckter Zettel" steckt das Wort "stecken" noch darin. Etikette bedeutet heute die Niederschrift von Umgangsformen oder die Umgangsformen an sich. Netiquette ist also die Beschreibung von Umgangsformen und Sozialverhalten im Netz.
Netiquette ist eine Sammlung von Vorschlägen, wie man durch höfliches Verhalten die Kommunikation erleichtern kann und soll. Netiquette basiert auf sozialen und technischen Erfahrungswerte zahlreicher intensiver Netz-Nutzer. Über die Netiquette und ihre wesentlichen Änderungen wird bei Bedarf im Netz abgestimmt, sie ist aber kein demokratisch repräsentativ abgestimmtes Regelwerk. Netiquette besteht aus Empfehlungen, deren Befolgung zumeist nicht juristisch verfolgbar ist, deren Nichtbefolgung aber durchaus mit sozialen Sanktionen verbunden ist, so zum Beispiel: Öffentliche Aufforderung zur Befolgung, Flames, Killfile (auch öffentlich), Merkbefreiung oder gar "Usenet Death Penalty". Ein rechtlicher Aspekt ist der Verweis auf die "Netiquette" in den meisten Verträgen oder AGBs der Internet-Provider, die Beschwerden zum Teil sehr zügig nachgehen und bei "Netiquette"-Verstöße in schweren Fällen bis zur Kündigung gehen.
Netiquette führt zu Beiträgen, die gelesen werden, und damit zu Antworten, die zur Diskussion beitragen.
Netiquette hat mit "nett" ebenso wenig zu tun wie Höflichkeit nicht von "Bauernhof" kommt. Auch harte, kontroverse Diskussionen können, sollen der Netiquette entsprechen, also Streitkultur beweisen. Etikette hat genauso wie Höflichkeit ihren Ursprung in der Entwicklung von Kultur im Umgang miteinander bei Hofe. Es bedeutet, Respekt und Achtung für den Gegenüber zu zeigen, ihn ernst zu nehmen, ihm ein Stück entgegen zu kommen, ihm aber trotzdem Freiraum zu lassen. Es bedeutet auch, manchmal wenig Mehrarbeit zu leisten, um sie - manchmal vielen - anderen nicht auf zu bürden.
Netiquette bekommt dadurch einen hohen Stellenwert, dass die Beteiligten im Netz sich nicht persönlich gegenüber stehen, sich nicht einmal kennen. Sie sehen keine Mimik und Körpersprache, kennen nicht den kulturellen und intellektuellen Hintergrund, die Erfahrungen und Bedürfnisse des Anderen. Nur ihr Beitrag spricht für sie, in Form und Inhalt.
Beispiel: Ich sage "bitte" und "danke", wenn ich etwas möchte. Damit drücke ich aus, mir bewusst zu sein, auf das Erbetene keinen Anspruch zu haben - und ich sage auch dann "bitte", wenn ich in Wirklichkeit den Anspruch habe. Dem Gegenüber gebe ich damit Spielraum, sein Gesicht zu wahren.
Noch ein Beispiel: Ich komme in eine fremde Runde, also stelle ich mich vor. Ich sage wer ich bin, vielleicht noch ein paar kurze Daten zu meinem Background. Ich reiche dem Gegenüber die Hand. Alles das sind Zeichen der Offenheit, die dem Gegenüber Sicherheit vermitteln: Die ausgestreckte Hand gibt körperliche Sicherheit, ich ziehe keine Waffe, die Vorstellung gibt inhaltliche Sicherheit, man kennt mich besser, kann meine Darlegungen einschätzen, sehen, dass ich dazu stehe.
Übertragen auf die Netiquette heißt das: ich gebe den Realname an, mit dem ich mich der Runde vorstelle. Ich komme meinen Gegenübern entgegen, indem ich lesbar schreibe, also nicht vollquotend drüberschreiben und nicht nur Kleinbuchstaben, benutze in der Regel meine Rechtschreibprüfung oder den Duden etc. Ich versuche, strukturiert zu schreiben, zusammengehörige Inhalte auch im Posting zusammen darzustellen. Ich nehme Rücksicht auf andere technische Ausstattung und Bandbreite, vermeide also z.B. HTML-Postings. Ich gebe dem Gegenüber auch in heftiger Diskussion Gelegenheit, sachlich zu bleiben, verkneife mir also möglichst unzulässige Verallgemeinerungen, Beleidigungen etc. Ich schicke Newbies Hinweise zur Netiquette per E-Mail, statt sie öffentlich bloß zu stellen.
Wie im echten Leben, so gibt es auch im Netz verschiedene Orte und Anlässe der Kommunikation mit eben so vielen Variationen von Etikette/Netiquette. So wie ich im Thekengespräch auf eine förmliche Vorstellung verzichte, brauche ich im Chat normalerweise keinen Realname. Auf einer Tagung aber gehört es zum guten Ton, seine Wortbeiträge mit der Nennung des Namens und ggf. der Organisation, für die man spricht, zu nennen; dies entspricht im Usenet der Nennung des echten Namens. Selbst im Usenet unterscheidet sich die Netiquette von Gruppe zu Gruppe, so ist bei Selbsthilfegruppen anonymes posten durchaus erlaubt.
Und wie im echten Leben sind auch Usenet nicht alle ganz gleich. Viele Teilnehmer kennen sich schon jahrelang und nehmen flapsige Kommentare untereinander ganz anders auf, als wenn sie von einem Neuen kommen. Die Regulars sind sich bei Flames eines Newbies sehr schnell einig. (Regular hat nichts mit regulieren zu tun, sondern mit regulärem, also regelmäßigem, Lesen und Posten in der Newsgroup.)
Umgekehrt ist zu beobachten, dass nicht-Netiquette-konforme Postings dies oft in mehreren Punkten sind: Pseudos etwa schreiben auffällig häufig durchgängig klein, HTML-Postings sind oft unstrukturiert (beim Ur-Sinn von HTML eigentlich seltsam) u.s.w.
Schlampige Form indiziert schlampigen Inhalt, unhöfliches Auftreten zeitigt unfreundliche Antworten. Es fällt schwer, ein Posting ernst zu nehmen, wenn es der Autor selbst nicht tut, und es fällt auch schwer, Fragen zu beantworten, an denen sich der Autor nicht selbst versucht hat, weder an der Fragestellung noch an der Lösung. Wer gelesen werden will, muss auf seine Leser eingehen, wer nicht gelesen werden will, soll seine Werke nicht ins Netz stellen.
Die Netiquette mag verbesserungsfähig sein, zentrale Aussage bleibt aber die Forderung, in allem, was man schreibt, möglichst konservativ, und in allem, was man liest, möglichst liberal zu sein.
Ein paar Links zum Thema:
© Christoph Kämper/ pigasus
2001